Die Neonazi-Aufmärsche zum 1. Mai in Halle (Saale) und Gera
Anlässlich des 1. Mais rufen neonazistische Parteien in Halle (Saale) und in Gera zu überregionalen Aufmärschen auf. Mit dem Slogan „Tag der Deutschen Arbeit – Gemeinsam gegen Kapitalismus, Ausbeutung und Überfremdung“ mobilisiert der sachsen-anhaltische Ableger der Partei „Die Rechte“ seit Monaten bundesweit im militanten Spektrum der neonazistischen Szene nach Halle (Saale). Unterdessen ruft „Der III. Weg“ am 1. Mai unter dem Motto „Kapitalismus zerschlagen – Für Familie, Heimat, Tradition!“ zu einem Aufmarsch in Gera auf.
von David Begrich, Torsten Hahnel, Michael Barthel
Dieser Text erschien zuerst in “miteinanderaktuell – Impulse für eine lebendige Demokratie”. Wir Danken für die Zweitveröffentlichung an dieser Stelle.
Seit Beginn der 1990er Jahre bemühen sich Neonazis, den 1. Mai inhaltlich zu besetzen und als zentralen Aufmarschtermin zu etablieren. Diese Versuche sind Teil einer spektrenübergreifenden Strategie, soziale Fragen mit neonazistischen Inhalten zu beantworten. Mit der Formel „Sozial geht nur National“ inszenierte sich die NPD jahrelang als Vertreterin der Interessen der „einfachen Leute“.
Während Neonazis anfangs noch am 1. Mai durch disziplinierte und geordnete Demonstrationen für sich zu werben suchten, wurde bereits gegen Ende der 1990er Jahre intern über die strategische Ausrichtung und den Einsatz von Gewalt bei öffentlichen Versammlungen diskutiert. Mit dem Auftreten der „Autonomen Nationalisten“ bekam diese Diskussion neue Nahrung, und ein nicht unwesentlicher Teil der Szene bekannte sich offen zu gewalttätigen Aktionsformen. So richten sich die Aufmärsche mittlerweile vor allem an die eigene Anhängerschaft. Sie bieten einen eventorientierten Kristallisationspunkt für die militante Neonaziszene und ihre Aktionenformen. Ihr Ziel ist die Provokation der demokratischen Zivilgesellschaft – auch und gerade am 1. Mai.
Der Aufmarsch in Halle
Halle (Saale) ist nicht zum ersten Mal Aufmarschort der Neonaziszene anlässlich des 1. Mais. Bereits 2003 fand hier eine zentrale Demonstration des Spektrums der „Freien Kräfte“ statt, an der ca. 1.300 Neonazis aus der gesamten Bundesrepublik teilnahmen. Aufgrund starker Proteste musste die Route der Neonazis mehrfach geändert werden. Ähnlich erfolgreich verliefen die Proteste gegen eine Demonstration von rund 1.000 Neonazis am 1. Mai 2011. Unter dem Bündnis-Motto „Halle blockt! Naziaufmarsch verhindern“ hatten sich auf den Straßen Halles rund 2.500 Teilnehmer*innen an Demonstrationen und friedlichen Sitzblockaden gegen Rechts beteiligt. Als klarer Erfolg der Demonstrant*innen am 1. Mai 2011 darf der Umstand gewertet werden, dass die Neonazis ihre geplante Route durch den Süden der Stadt nicht antreten konnten. Aufgrund von verschiedenen Spontanblockaden konnten diese lediglich eine verkürzte Ausweichroute in den Norden und Osten der Stadt durchführen, in deren Verlauf sie von Beginn bis zum Ende von massiven Protesten begleitet waren.
Nunmehr versuchen Neonazis zum dritten Mal einen Aufmarsch am 1. Mai in Halle durchzuführen. Der Aufruf wird durch Strukturen rund um das sogenannte Anti- kapitalistische Kollektiv (AKK) sowie Teilen der NPD und militanter Kameradschaften unterstützt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Demonstration in Halle die größte Mobilisierungskraft unter den 2017 stattfindenden neonazistischen Mai-Aufmärschen haben wird.
Das „Antikapitalistische Kollektiv“ (AKK) trat erstmals im Zuge der Proteste gegen die Neueröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main im März 2015 in Erscheinung. Die Ankündigung, sich an den Aktionen des linken Bündnisses „Blockupy“ zu beteiligen, sorgte im Vorfeld für Aufregung, wurde vor Ort – trotz einiger „Beweisfotos“ in den Sozialen Medien – jedoch nicht sichtbar. Das „AKK“ ist im europäischen nationalrevolutionären Netzwerk „ACN/AKN (Anti-Capitalist_Network/ Anti-Kapitalistisches_Netzwerk)“ organisiert, das sich Ende 2011 gründete. Das ACN/AKN verfolgt die Strategie, sich an kapitalismuskritische Demonstrationen und Arbeitnehmer*innenproteste anzuhängen und/oder auf eine Art und Weise darüber zu berichten, die eine weitreichende Vernetzung und Bedeutung der Gruppe suggeriert. Der deutsche Ableger „AKK“ ist eng verwoben mit den Jungen Nationaldemokraten Baden-Württemberg um den früher in Hessen in der Kameradschaftsszene aktiven Maximilian Reich. Reich ist ebenfalls als Redner für die Neonazidemonstration in Halle angekündigt. Das Mobilisierungspotential des „AKK“ liegt bei etwa 200 Personen.
Ästhetik des Nationalsozialismus
Die Ästhetik der Mobilisierungen für die Aufmärsche in Halle und Gera ähnelt sich auf den ersten Blick stark: Plakat- und Flyermotive zeigen stilisierte, ernst blickende Arbeiter mit Werkzeug in der Hand. Dieses Motiv variiert ein Wahlplakat der NSDAP aus dem Jahr 1932. Dessen Ikonographie bedienen sich Neonazis seit langem immer dort, wo sie eine (indirekte) Kontinuität zur NS-Bewegung herstellen wollen. Der NSDAP wiederum diente dieses Bild zur Illustration ihres politischen Konzepts der Volksgemeinschaft. Das spiegelt sich auch in der Symbolik von Hammer, Schwert und Zahnrad wider. Mit diesen inflationär verwendeten Zeichen stellten die Nationalsozialisten den Arbeiter und Soldaten in den Mittelpunkt ihrer Idee der Volksgemeinschaft.
Auch die Mottos beider Aufmärsche ähneln sich und greifen antikapitalistische Elemente der NS-Ideologie auf. Während jedoch die Mobilisierungsvideos für Gera ganz im Stil der traditionellen NS-Ästhetik mit Trommeln und getragener, pathetischer Musik arbeiten, orientieren sich das AKK und ihr Umfeld an der jugendkulturellen Formensprache der „Autonomen Nationalisten“. Die Mobiliserungsvideos für Halle versprechen Action und Dynamik. Hier gibt es schnelle Schnitte, Bilder von Auseinandersetzungen mit der Polizei, Pyrotechnik und Graffiti zu sehen. Unterlegt ist das Ganze mit Elektro und schnell gespielter Rockmusik. Die Botschaft ist deutlich: Am 1. Mai gibt’s in Halle was zu erleben, während in Gera nur gelatscht wird.
Der 1. Mai 1933 und seine Rolle in der Etablierungsphase des NS-Regimes
Die Einführung des 1. Mai als Feiertag spielte für die politische Legitimation des im Aufbau befindlichen NS-Regimes im Milieu der Arbeiter*innenbewegung eine Schlüsselrolle. Seit Mitte der 1920er Jahre zielten Rhetorik und Programmatik der NSDAP auf eine Integration der politisch links stehenden Arbeiter*innenschaft in das Konzept einer autoritär und national formierten Volksgemeinschaft. Im Mittelpunkt stand die politische Agitationsformel des Bündnisses zwischen den „Arbeitern der Stirn und den Arbeitern der Faust“, aus dem ein „nationaler Wiederaufstieg“ hervorgehen sollte. Zwar war es den Nationalsozialisten zu Beginn der 1930er Jahre gelungen, mit ihren Deutungsangeboten auch in der Arbeiter*innenschaft Fuß zu fassen, doch war die Machtübernahme im Januar 1933 keineswegs gleichbedeutend mit einer kulturellen Hegemonie des Nationalsozialismus unter sozialdemokratisch und kommunistisch orientierten Arbeiter*innen. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in der Gesellschaft, etwa der Beamt*innenschaft, stießen die Nationalsozialisten hier zunächst auf eine breite, wenn auch politisch passive Skepsis.
Vor diesem Hintergrund erklärte das NS-Regime den 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit“ und zum gesetzlichen Feiertag, der eine volle Lohnfortzahlung beinhaltete. Damit erfüllte das NS-Regime formal eine alte Forderung der Arbeiter*innenbewegung. Die Politik der NS-Führung zielte auf eine langfristige Einbindung der kulturellen und sozialen Praxen der Arbeiter*innenbewegung in das neue Regime unter Wegfall ihrer emanzipatorisch-demokratischen Leitideen. Hierzu bedurfte es nach dem Verbot der Arbeiter*innenparteien der politischen Entmachtung der Gewerkschaften, die den Nazis als Teil der „jüdisch- bolschewistischen Weltverschwörung“ galten.
Die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) setzte zunächst auf die Kooperation mit der NS-Führung. Noch im Februar 1933 hatte der ADGB seine politische Neutralität gegenüber der Regierung betont, um nach der Zerschlagung der Arbeiter*innenparteien sein Überleben zu sichern. Dieses Motiv lag auch der Beteiligung der Gewerkschaften an den Maifeiern 1933 zu Grunde und verband sich mit der Hoffnung auf die Erfüllung weiterer sozialer Forderungen durch die neue Regierung. Von einer eigenständigen Akzentsetzung der Gewerkschaften konnte jedoch am 1. Mai 1933 keine Rede mehr sein. Die NS-Führung nutzte den 1. Mai, um ihren schrankenlosen Herrschaftsanspruch zu dokumentieren und den neuen gesetzlichen Feiertag durch eine völkisch-soziale Leitidee inhaltlich zu vereinnahmen. Die sorgfältig inszenierten Massenaufmärsche und Kundgebungen, die von NS-Parteigliederungen und ihren Vorfeldorganisationen dominiert wurden, erwiesen sich als Vorspiel für die am 2. Mai 1933 mit einer Verhaftungswelle einsetzende Zerschlagung der Gewerkschaften.
Obwohl die Nationalsozialisten mehrere neue Feier- und Gedenktage einführten, kam dem 1. Mai in den folgenden Jahren eine besondere Stellung innerhalb der Legitimationsarchitektur des Regimes zu. Seiner ursprünglichen Bedeutung als politischer Festtag der Arbeiter*innenschaft entkleidet, avancierte er vom Tag der nationalen Arbeit zu einem Nationalen Feiertag des deutschen Volkes, in dessen Vordergrund völkische Brauchtumsrituale standen. Der Bezug zur Arbeitswelt geriet Mitte der 1930er Jahre völlig in den Hintergrund. Doch hinter den nun dominierenden Maibaumritualen eine faktische Entpolitisierung des Feiertags zu vermuten, geht fehl. Auch dort, wo sich völkische Brauchtumselemente mit dem Volksfestcharakter des Tages mischten, galt der Feiertag dem NS-Regime als Weltanschauungsbekenntnis, welches durch eben diese Rituale gefestigt werden sollte. Federführend wurden die Feierlichkeiten in den 1930er Jahren von den regionalen Gliederungen der NSDAP und der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) ausgerichtet, unter deren Dach berufsständische Fachverbände und die Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF) firmierten neben Maibaumritualen mit Kranzniederlegungen, prägten theatrale Aufführungen den Charakter der Feierlichkeiten. Unpolitische Frühlingslieder wurden ebenso gesungen, wie solche, die dem Charakter des Fests als einem politischen Feiertag entsprachen. Anschließend an die politischen Kommunikationsformen der Arbeiter*innenbewegung fanden am 1. Mai umfängliche Festumzüge statt, die von SA und HJ, aber auch von Wehrmacht und SS angeführt wurden. Der in Berlin stattfindende Staatsakt zum 1. Mai wurde im Reichsrundfunk übertragen. Die sich einer Ansprache Hitlers anschließenden Wehrübungen und Sportdarbietungen verbanden Unterhaltung mit politischer Agitation. So transformierten die Nationalsozialisten den 1. Mai von einem Feiertag für die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter*innenschaft zu einer symbolischen Inszenierung der Leitidee der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.
Völkischer Antikapitalismus
Wenn Neonazis ankündigen „gegen Kapitalismus und Ausbeutung“ demonstrieren zu wollen, sorgt dies immer wieder für Irritationen. Richtigerweise wird festgestellt, dass dies an die Rhetorik der politischen Linken erinnert und das Thema eigentlich „links besetzt“ sei. Nichtsdestotrotz gibt es in der Rechten eine lange Tradition der Rezeption bestimmter kapitalistischer Phänomene, ebenso wie eigene Vorstellungen davon, was ein „Deutscher Sozialismus“ sei. Dabei wird unter Begriffen wie „Ausbeutung“ und „Kapitalismus“ gemeinhin nicht dasselbe verstanden, wie etwa bei den Gewerkschaften. Selbst der Begriff der „Arbeit“ ist anders konnotiert.
Die Organisatoren des Naziaufmarschs am 1.Mai in Halle (Saale) zitieren NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, wenn es um die Frage geht, was Kapitalismus sei: „Kapitalismus ist missbräuchliche Verwendung von Volksgut überhaupt, und der Mensch, der diesen Missbrauch betreibt, ist ein Kapitalist.“ Diese „missbräuchliche Verwendung“ wird vor allem ausländischen Wirtschaftsmächten – dem „internationalen Finanzkapital“ – zugeschrieben, die es rücksichtslos auf die Arbeitsergebnisse abgesehen hätten, die „deutsche Arbeiter“ und „produktives nationales Kapital“ gemeinsam schaffen. In diesem Sinnzusammenhang ist auch der Begriff der „Ausbeutung“ zu verstehen, den Neonazis verwenden.
Wenn Völkische Antikapitalisten vom „Kapitalismus“ reden, meinen sie einen Manipulationszusammenhang von internationalen Akteuren, wie Großbanken und Hedgefonds sowie ihren angeblichen Handlangern in der „korrupten“ politischen und wirtschaftlichen Elite. Die Dynamik wirtschaftlicher Prozesse, die durch die Interaktion aller Teilnehmenden am kapitalistischen Warentausch entsteht, ist hier nicht von Bedeutung. Die Kapitalismuskritik der Neonazis speist sich aus einer selektiven Moral: Sie kritisieren lediglich das kapitalistische Handeln einzelner – in der Regel etwa US-amerikanische Investoren und Milliardäre, insbesondere dann, wenn diese jüdischer Herkunft sind – während anderen Marktteilnehmer – wie den deutschen Mittel- und Kleinbetrieben – abgesprochen wird, Teil des kapitalistischen Regelsystems zu sein. Die Rede ist davon, dass „die da oben“ sich „die Taschen vollstopfen“ während „der kleine Mann“ bzw. der „Arbeiter“ der Leidtragende sei. Als „Arbeiter“ gelten ihnen alle ethnischen Deutschen, die mittelbar oder unmittelbar an der Produktion beteiligt sind, darunter nicht nur Arbeitnehmer*innen, sondern auch Arbeitgeber*innen. Diese Definition geht zurück auf die nationalsozialistische Unterscheidung vom „schaffenden und raffenden Kapital“, das im heutigen Neonazismus auch als Gegensatzpaar von „Internationalem Finanzkapital“ und „Deutscher Arbeit“ rezipiert wird. Die Extreme Rechte betrachtet die auf rassistisch-völkischer Grundlage definierte Nation als Gegenprinzip zum Kapitalismus.
Der Völkische Antikapitalismus richtet sich in erster Linie gegen vermeintliche „Strippenzieher“ aus den USA und Israel, gegen die Konkurrenz der sogenannten Fremdarbeiter und gegen all jene, die als „Agenten der Internationalisierung“ und der „antideutschen Politik“ gelten. Im Gegensatz zum Antikapitalismus der politischen Linken werden Grundprinzipien des kapitalistischen Wirtschaftens im Völkischen Antikapitalismus nicht kritisiert, solange sie sich in einem nationalen Rahmen bewegen. Weder der Markt, noch das Privateigentum an den Produktionsmitteln, noch betriebliche Hierarchien oder Sanktionsmittel gegen vermeintlich Arbeitsunwillige, ja oft nicht einmal niedrige Löhne gelten den extrem rechten Kapitalismuskritiker*innen als Problem.
Im Kern erscheint hier die alte Forderung extrem rechter Parteien nach „Arbeitsplätzen nur für Deutsche“ in einer in Globalisierungskritik gekleideten Variante. Neonazis nutzen die ökonomischen Umgestaltungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt, um rechte Globalisierungskritik und rassistische Agitation zum Thema Zuwanderung von Arbeitskräften zu verknüpfen. Der 1. Mai ist für Neonazis somit in durchaus historischer Kontinuität Anlass, die Idee der Volksgemeinschaft zu aktualisieren.
Hinweis: Der Text ist eine aktualisierte und überarbeitete Neuauflage des AREX-Hintergrundpapiers 02/2011: „Seit ´33 arbeitsfrei“ – Wie Neonazis den 1. Mai instrumentalisieren. Hrsg. von Miteinander e.V./Arbeitsstelle Rechtsextremismus.